Was sagt die Fichte dazu ...

Welcher Baum ist im Sinne menschlichen Erfolgsdenkens der erfolgreichste? Welche Strategie im Wald führt von Natur aus zum größten Verbreitungsgebiet, also zur größten Bedeutung, zum größten Marktanteil im Verständnis moderner Ökonomie?

Wir haben ja bereits gesehen, dass sich jeder Baum einer eigenen Strategie bedient. Er benutzt bestimmte Fähigkeiten, um bestimmte Gebiete zu besiedeln. Am größten zusammenhängenden Festland der Erde, von der Pazifikküste vor Japan durch die endlosen Weiten Sibiriens bis an die Atlantikküste Europas, ist es die Fichte, die es geschafft hat, das meiste Land zu besiedeln. Von Natur aus hat sie das getan. Die von Menschenhand in Mitteleuropa gepflanzten Fichtenwälder können dabei getrost vernachlässigt werden.

 

Die Analyse der Fichte bringt die größte Überraschung. Was kann sie besser als alle anderen Bäume, die ebenfalls nach möglichst großem Siedlungsraum für ihre Art streben?

 

Eigenartig, das Wurzelwerk kann es nicht sein. Menschlich betrachtet, ist sie hier ein regelrechtes „Weichei“. Denn als ausgeprägter Flachwurzler überlässt sie alle tieferen Erdregionen bereitwillig ihren Nachbarn. Bei Stürmen und großen Belastungen ist sie daher auch auf den Halt und Schutz durch Tiefwurzler in ihrer Nachbarschaft angewiesen. Dieselben Nachbarn, denen die vorher freundlich die tieferen Erdschichten überlassen hat, sind es daher auch, die jetzt die Fichte stützen, ihr helfen. Auch die Krone ist schmal und zurückhaltend. In der Kronenkonkurrenz erscheint sie im Vergleich zu vielen mächtigen Baumgestalten der Wälder ebenfalls nachgiebig und mittelmäßig. Auch hier wird die Einladung an ihre Mitbewerber ausgedrückt. Neben der schmalkronigen Fichte können sich andere viel leichter ansiedeln als neben mächtigen, dominanten Baumgestalten. Mit dieser Eigenschaft, nachgiebig und mittelmäßig, kann ebenso der Stamm beschreiben werden. Das Holz ist eher weich, leicht und elastisch. Keine Spur von der Härte der Eiche, der größeren Druckfestigkeit der Kiefer, der extremen Biegsamkeit der Esche.

 

Alles wirkt durchschnittlich und fein zurückhaltend an dem Baum. Wie kann ausgerechnet die Fichte den Wettlauf um die Vorherrschaft im Wald gewinnen?

 

Sie tut das Gegenteil dessen, was menschliche Manager und Betriebswirte lernen und leben. Sie kämpft nicht mit ihrer Konkurrenz. Sie versucht niemanden zu unterdrücken. Im Gegenteil, wo es nur geht, lebt sie eine gute Nachbarschaft. Das ist das Fichtengeheimnis. Wer selbst jedes Ringen gegen seinen Nachbarn loslässt, ist bald beliebt und hat viele Freunde.

Neudeutsch könnte diese Fichtenbotschaft heißen: „ Loslassen und netzwerken, anstatt zu kämpfen.“ Das führt besser ans Ziel. Wer mit seiner Arbeit zuerst einmal anderen etwas Gutes tun will, statt den Mitbewerber zu vernichten, der erntet Lebensfreude, Erfüllung und Gesundheit.

 

Die Fichte lebt ihr eigenes Leben, anstatt zu kämpfen. Tagtäglich wird uns Menschen alles Mögliche eingeredet, was wir zu tun, zu kaufen, zu erledigen haben. Milliarden gibt die Werbewirtschaft aus, um uns einzutrichtern, wie wir am besten aussehen, was wir besitzen sollen. Ist das unser Leben? „Lebe dein Leben. Geh in die Natur, genieße es, fühle sie, folge deiner inneren, wahren Bestimmung - JETZT!“ Niemand muss bekämpft, besiegt, beherrscht und unterdrückt werden. So etwas kostet unglaublich viel Energie. Lebenskraft, die viel besser für die Gemeinschaft, für ein gutes Miteinander eingesetzt werden kann. Wer seine Kraft und Energie gut verwendet, erntet Gesundheit und Erfolg ganz von allein.

 

Das sagt die Fichte dazu.

 

Aus Maximilian Moser, Erwin Thoma, Die sanfte Medizin der Bäume, Gesund leben mit altem und neuem Wissen